Fotos gucken/machen – heute

Ich war ja im Januar beim 90igsten Geburtstag von Tante Trude in Finnentrop. Ich berichtete davon. Dort verhielt es sich so, dass man nicht ausgiebig und wild feierte, sondern in geselliger Runde über die Familie sprach, alte Geschichten auskramte, über die Veränderung der Welt redete, dass früher es mehr Gemeinsinn gab, heute es nicht schlechter wäre, sondern nur anders. Im Zuge dieser Erörterungen und Geschichten kramte Tante Trude dann ihr in braunem Kunstleder gebundenes Fotoalbum heraus, um die eine oder andere Geschichte mit Bildmaterial zu untermauern. Einige Fotos hatte Tante Trude nicht in dem normalen Format von 7×10 cm im Album, sondern in dreifacher Größe, so dass man Einzelheiten und Feinheiten besser erkennen konnte. So war es möglich, genau zu erkennen, was Öchschen (der Name kommt von Ochse und wird Öchs-chen ausgesprochen) auf der Ladepritsche seines VW Bullis hatte. Leider hatte sie ein Foto von mir (in Kleinstausgabe), meiner Ma und meiner Tante nicht größer abgezogen. Denn es entstand ein Zwist, welche Dekorationen denn der Hut habe, den ich auf dem Foto trug. Waren es Federn oder ein anderer Tand? Diese Frage konnte nicht zufriedenstellend gelöst werden, da anwesenden Personen sich nicht erinnern konnten, ihres Alters wegen nicht zur Riege der Altvorderen gehörten und die Qualität des Fotos einfach zu schlecht war.

Wieder daheim, dieses Problems nachsinnend, kam es mir bald in den Sinn, dass in der heutigen Zeit häufig solche Probleme auftreten. Nicht die Frage, welche Dekoration der Hut hatte, sondern dass es immer häufiger geschieht, dass die mobilen Telekommunikationsgeräte mit erweiterter Funktionalität genutzt werden, um Fotografien zu machen und diese auch anzuschauen. Selbst von anderen Personen auf netzöffentlichen Pinnwänden zur Schau gestellte Bilder, werden mit den Telefonen ohne Schnur heruntergeladen und beäugt. Vielleicht liegt es ja an meiner immer schwächer werdender Fähigkeit auf Minidisplays dargestellten Fotografien Kleinigkeiten und Feinheiten zu erkennen, aber immer häufiger kommt mir der Gedanke, dass es bei bestimmten Bildern eines größeren Darstellungsformat bedürfe, um das Besondere, um das Ganze zu erkennen. Weiter darüber nachdenkend fiel mir ein Erlebnis ein, welches ich vor einigen Tagen auf dem Marienplatz in München hatte. Ich lief über den Platz und wäre fast von einer Gruppe asiatischer Touristen überrannt worden. Ich muss gestehen, ich war selbst in Gedanken vertieft und habe nicht auf die rückwärtslaufende Gruppe geachtet. Es ist schon ein Schauspiel wenn so gut 10-15 Leute rückwärts, jeweils einen Arm ausstreckend, in dessen Hand sich ein Stock befindet, an dessen Ende ein Handy befestigt ist, auf das Neue Rathaus zulaufen. Selfies!! Diese Szene war ja schon einigermaßen skurril. Aber jede einzelne Person trachtete danach den bestmöglichen Ausschnitt, heißt sich und das Gebäude, aufzunehmen. Und so kam es, dass kleine Fechteinlagen mit den Handysticks veranstaltet wurden. Ein Handystick zeigte danach eine gewisse Ermüdungerscheinung, Verletzte gab es nicht. Wenn ich Punktrichter gewesen wäre, ich hätte einer älteren Dame mit schwarzen Daunenmantel und moonbootähnlichem Schuhwerk den Sieg zugesprochen. Das man dann nicht auf Leute im Rücken achten kann, ist selbstverständlich. Nachdem die Aufnahmen auf diese Art und Weise gemacht waren, verschwand die Gruppe Richtung Viktualienmarkt und zwar auf richtige Art, nämlich vorwärts laufend. Die Mobiles schwebten von den Sticks getragen über ihren Köpfen. Ich hoffe für alle, dass ihre Aufnahmen gut geworden sind. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich den Ort einfach so angeschaut haben. Es wäre traurig so weit zu reisen und das ganze nur auf einem kleinen Handydisplay gesehen zu haben. Aber wie sagte der verstorbene Gatte von Tante Trude, Onkel August häufig: Kannste machen nix, musste gucken zu.

Ein kleiner Nachtrag. Ich war letzten Samstag auf dem Konzert von Parov Stelar im Zenith. Ein wirklich gutes Konzert mit einer ansehnlichen Bühnenshow. Ich habe bei solchen Konzerten Glück. Ich bin groß und kann in der Regel über die meisten der Besucher hinwegschauen ( Das ist bis jetzt noch so. Aber im Alter wird man ja kleiner, man schrumpft sozusagen in die Menschenmenge hinein. Ich stelle mir gerade vor, wie das sein wird, nur noch Rücken, Köpfe und die Hallendecke zu sehen. Aber ich schweife ab. ) und die Show geniessen. Als dann das Lied All Night kam, erhob sich vor mir ein Wald aus handyhaltenden Armen, die mir die Sicht auf die musizierenden Personen auf der Bühne erschwerten, wenn nicht gar unmöglich machten. Wieso alle in solchen Situationen ihr Handy mit beiden Armen halten und damit für die dahinterstehenden Personen eine doppelte Fläche verdecken, ist mir schleierhaft. Ich tippe auf Bösartigkeit. In solchen Situationen und nur in solchen Situationen finde ich den Einsatz von Handysticks hilfreich. Denn so wird durch die geringe Fläche eines solchen handyhaltenden Stockes wenigstens den weiter hinten stehenden Personen die Möglichkeit gegeben einen Blick auf die Bühne zu werfen.

 

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